Ich möchte Leuchtturm sein in Nacht und Wind – für Dorsch und Stint, für jedes Boot – und ich bin doch selbst ein Schiff in Not! (Wolfgang Borchert)
Paperclay (rot brennend) und Metallstäbe; 40 cm x 36 cm (B x H)
Warum sehen wir die Welt alle anders, obwohl wir - aus der Sicht der physikalischen Optik - alle das Gleiche sehen? Welchen Titel würden Sie z.B. dieser Arbeit geben, wenn Sie dazu aufgefordert würden? Warum würden wir vermutlich alle zu unterschiedlicher Titelfindung kommen? Und woran liegt es, dass wir zu sehr unterschiedlichen, z.T. sehr weit auseinander liegenden Bewertungen dessen kommen, was wir sehen? Und warum tritt dieses Phänomen ganz besonders beim Betrachten von abstrakter Kunst auf? Fragen über Fragen.
Es ist einfach so: bei ein und demselben Kunstwerk liegen in den Himmel jubeln und in den Orkus treten oft dicht beieinander. Die Kommunikation über ein abstraktes Kunstwerk gestaltet sich daher häufig eher schwierig. Eine Einigung über Sinn und Wert eines Kunstwerks der Kategorie abstrakte Kunst ist häufig genug nicht möglich.
Ein sinnfälliges Erklärungsmodell für diese empirisch bestätigte Divergenz bei der Bewertung abstrakter Kunst findet sich in der Neurobiologie. Plakativ zusammengefasst kann man sagen: Der Mensch ist Gedächtnis. Unsere Erinnerungen bestimmen weitgehend, wer wir sind und wie wir bewerten, was wir sehen. Ja, mit Hilfe unseres Gedächtnisses können wir willentlich weit in die Vergangenheit zurückkehren und Geschichten von früher erzählen. Ein Großteil dieser Zeitreisen findet jedoch im Unterbewussten statt, ganz besonders häufig gerade beim Betrachten von abstrakter Kunst. Zudem arbeitet unser Gedächtnis keineswegs völlig fehlerfrei. Vielmehr arbeitet es, sowohl im bewussten als auch im unbewussten Modus, mit Wahrscheinlichkeitsannahmen. Bei der Unmenge an Eindrücken, die auf uns in jeder Sekunde einprasseln, bleibt unserem Gehirn gar nichts weiter übrig, als dabei selektiv vorzugehen. Wir speichern nur Eindrücke ab, wenn wir glauben, diese für eine zukünftige Aktivität wieder benötigen zu können, wenn wir etwas damit assoziieren können, und wenn sie für uns einen emotionalen Gehalt haben. Zusammen mit unserer Fähigkeit zum assoziativen Denken - das ebenfalls vornehmlich im Unterbewussten abläuft - führt diese Arbeitsweise unseres Gehirns zu völlig unterschiedlichen Bewertungen eines Kunstwerkes durch mehrere BetrachterInnen, denn jedes Gehirn hat, trotz vielleicht ähnlicher Erfahrungen, ein eigenes, individuelles Gedächtnis.
Aus diesem Grund wurde das in diesem Beitrag gezeigte Wandrelief zur Abwechslung mal mit einem Namen belegt. Dieser Name stammt nicht von der Künstlerin, sondern von mir, dem Betreiber dieses Blogs. Die Erinnerung an die vier Jahrzehnte, die ich an der Nordsee verbracht habe, führte zu diesem assoziativen Titel: Leuchtturm im Sturm. Diesen Namen habe ich der Arbeit beigegeben aus der Annahme heraus, dass Begriffe und Namen uns bei der Einordnung von Unbekanntem, Neuem helfen. Die Kombination mit dem Begriff `"Sturm" hilft bei der emotionalen Einordung dessen, was man sieht. Erinnerungen tauchen auf. Dabei ist dieser Leuchtturm im Sturm , neutral betrachtet, kein Leuchtturm, sondern nur ein blau bemalter Tonlappen, der auf eine Trägerplatte aufgearbeitet ist. Warum sind wir dennoch bereit, dieser Assoziation zu folgen? Da beginnt die Wirksamkeit der vielen relativ kleinen Bauelemente, die sich ebenfalls auf dieser Trägerplatte befinden. Für mich fliegen diese Einzelelemente durch die Luft wie Papiertüten, Plastikreste oder Dachpappenstücke, die ein Sturm ergriffen hat. Das Bauelement, das ich als Leuchtturm assoziiere, stemmt sich gegen den Sturm wie Menschen, die sich nur mühsam auf den Beinen halten können. Wer sich nie an der Küste gegen solche Naturgewalten gestemmt hat, wird sich wahrscheinlich an eigene stürmische Ereignisse erinnern und kann diese Assoziation leicht nachvollziehen. Die resedagrünen Streifen lassen dann erkennen, dass der gedachte Wind von rechts über die Szenerie weht. Fast scheint es, dass der Leuchtturm gegen den Schutz des Windes einen Schal trägt.
Meine Erinnerungen helfen mir dabei, einen Leuchtturm in einem nur aus abstrakten Formen bestehenden Wandrelief zu erkennen. Andere mögen einen anderen assoziativen Einstieg in dieses Wandrelief finden. Sagt das aber etwas über den Wert dieser Arbeit aus?
Wenn man abstrakte Kunst "verstehen" lernen möchte, dann sollte der Fokus nicht auf der Frage liegen, wie realistisch der Künstler/die Künstlerin etwas (einen Gegenstand, eine Landschaft, eine Person) gemalt hat, wie detailreich seine Komposition ist, oder wie realistisch seine Farbwahl ausgefallen ist. Abstrakte Kunst möchte Emotionen in den BetrachterInnen hervorrufen. Unendlich hilfreicher ist es, sich zu fragen, wie erfolgreich die Künstlerin/der Künstler in diesem Bemühen gewesen ist. Das verlangt natürlich, dass die BetrachterInnen innerlich bereit sind, Emotionen zuzulassen. Ohne diese Bereitschaft/Fähigkeit wird die Beschäftigung mit abstrakter Kunst eher mühsam. Gelingt dies aber, dann steht der Herstellung einer tiefen emotionalen Beziehung zum Kunstwerk, und damit auch zur Künstlerin/zum Künstler, nichts mehr im Wege. Beschäftigung mit abstrakten Kunstwerken führt dann weit hinaus über eine rein akademische Betrachtungsweise zu einem persönlichen Zwiegespräch mit den Emotionen der Künstlerin/des Künstlers. In mir weckt diese Wandskulptur von B.Chr.K.Barten eine ganze Fülle von inneren Bildern. Diese machen diese Arbeit für mich zu einem gut gemachten, wertvollen Kunstwerk. Im gelernten Literaturwissenschaftler kommen so u.a. Erinnerungen an das eingangs zitierte Gedicht von Wolfgang Borchert hoch.
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