Kopf oder Zahl?
Wandskulptur, Paperclay schamottiert 37 cm x 32 cm (B x H) 2020
Gegenstandslose Kunst hat gegenüber allen anderen Varianten der bildenden Kunst einen ganz großen Vorteil: Sie gibt den KünstlerInnen die vollkommene Freiheit, Gefühle und Emotionen zu kommunizieren, ohne durch figurative Elemente gestört zu werden. So entsteht im Kunstwerk und durch das Kunstwerk eine neue, objektive Realität. Einzelne Linien, Formen und Farben ergänzen sich so zu einer neuen Realität, für die es kein Vorbild gibt. Nur die absolute Musik - also Musik ohne Worte - ist diesbezüglich der abstrakten Kunst noch einen Schritt voraus.
Dennoch wird nicht jeder Betrachter/jede Betrachterin mit abstrakter Kunst glücklich. Ein Grund dafür liegt wohl in der Funktionsweise unseres Gehirns. Ständig gleicht es neue Eindrücke mit als Erfahrung früher abgespeicherten Erinnerungen ab. Dies geschieht andauernd, unbewusst und in Nanosekunden. Einen direkten Einfluss darauf haben wir nicht. Im Laufe der Evolution hat es sich diese Arbeitsweise - so jedenfalls erklären es Evolutionsbiologen - als besonders effektiv herausgestellt. Man kann darauf nur Einfluss nehmen, indem man dafür sorgt, durch immer neue Erfahrungen die zur Verfügung stehenden Erinnerungen zu verändern - nach allem, was wir wissen, ein mühsames Unterfangen.
Bei dieser Arbeitsweise trickst uns unser Gehirn daher immer wieder gerne aus. Ganz besonders gilt dies beim Erkennen von Gesichtern. Wir lesen in einem uns gegenüberstehenden Gesicht in Windeseile. Dabei entscheiden wir zwischen Freund und Feind. Es ist dann ziemlich mühsam, diesen ersten Eindruck mit Hilfe des Verstandes zu ändern. Sogenanntes rassistisches Denken hat darin wohl eine seiner Wurzeln. Die vorliegende Wandskulptur gehört zu solchen Kunstobjekten. Das oben gezeigte Foto zeigt eine abstrakte Arbeit, bei der sich jede Betrachterin/jeder Betrachter etwas anderes denkt, und entsprechend anders reagiert. Diese Reaktion ändert sich, wenn man das unten gezeigte Foto desselben Reliefs betrachtet.
Nach relativ kurzer Zeit sieht die überwiegende Mehrheit in dieser aus abstrakten Einzelelementen zusammen- gesetzten Arbeit ein Gesicht. Weder ist ein annährend realistisches Auge dargestellt, noch eine entsprechende Nase oder ein entsprechender Mund mit Lippen oder Zähnen. Dennoch reichen die wenigen Andeutungen unserem Gehirn aus, um in ihm die Assoziation mit einem Gesicht zu vermelden. Schon sehen wir ein Gesicht, obwohl dies in keiner Weise der Absicht der Künstlerin entspricht. Hat sich dieser Eindruck in den Köpfen der BetrachterInnen erst einmal festgesetzt, macht es kaum noch Sinn, von Kreisen, geraden oder gebogenen Linien zu sprechen, auf kontrastreich gegeneinander gesetzte Farbflächen hinzuweisen, oder auf einzelne Tonstege zu verweisen, die den Rahmen, der durch die rechteckige Grundplatte gesetzt wird, sprengen. Sobald Sie, die BetrachterInnen die untere Version anschauen, sehen Sie in dem Kreis mit kleinem inneliegenden Quadrat ein Auge. Die drei geraden, nicht ganz parallelen Tonstreifen am oberen Rand werden natürlich mit Stirnfalten assoziiert. Die braune Farbfläche mit den dort aufgearbeiteten Tonstegen wird zu einer Mund-Nasen-Kombination. Wir können uns nicht gegen diese Assoziationen wehren. Je länger wir dieses Relief betrachten, desto mehr verfestigt sich dieser Eindruck. Eine Befreiung davon gelingt nicht mehr. Selbst, wenn wir das Bild umdrehen, sehen wir ein Gesicht auf dem Kopf. Die folgende Abbildung illustriert dieses Phänomen noch einmal mit einer vollkommen anderen Komposition von Gegenständen:
Ein Topf mit Zwiebeln, Möhren etc. wird durch die Drehung um 180° zu einem eindeutigen Gesicht mit schwarzem Hut, Knollennase und Plusterwange. So werden so manche Kunstwerke zu einem Ding mit zwei Seiten, einfach nur, indem man sie um 180° um den zentralen Rotationspunkt dreht. Ähnlich, wie man Kopf oder Zahl erhält, wenn man eine Münze um 180° um deren Längsachse dreht.
Völlig überflüssig ist dabei die Diskussion, ob die Künstlerin dies geplant habe, oder ob dieser Eindruck purer Zufall sei, und daher mit Kunst nichts zu tun habe. Abstrakte Kunst entsteht meistens nicht nach einem strengen gedanklichen Plan. Auch die Vorstellungen abstrakter Künstler wurzelt in deren Unterbewussten. Wenn es an die Oberfläche drängt und in einem Kunstwerk sublimiert wird, dann gewinnt es seine künstlerische Berechtigung aus der Tatsache, dass es in seinen BetrachterInnen eine wie auch immer geartete emotionale Reaktion hervorruft. Man darf natürlich voraussetzen, dass die handwerkliche Gestaltung ohne Fehl und Tadel ist, aber das macht nicht den eigentlichen Wert eines Kunstwerkes aus. Und schon gar nicht muss eine Künstlerin/ein Künstlerin selbst erklären, was sie/er wie und warum so und nicht anders gestaltet hat. Künstler sind alles, nur nicht ihre besten KritikerInnen.
Kommentar schreiben